Schriftporträt Projekt »华夏古韵«
Eine Zeitreise durch das alte China
Das Schriftprojekt »Eine Zeitreise durch das alte China« der Chinesin Chen Pu entstand als Diplomarbeit im Fachbereich Gestaltung, Studiengang Kommunikationsdesign, an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Das Projekt wurde 2006 beim »red dot« International Award für Kommunikationsdesign ausgezeichnet.

Die mit dem Projekt verbundene Schriftkollektion besteht aus 3 Schriftstilen, die allgemein den klaren grafischen Ausdruck europäischer Schriftzeichen haben, aber jede für sich individuell mit den grafischen Merkmalen der Transformation von Fragmenten und Symbolen chinesischer Schriften »geschmückt« ist. Der Kern und die Besonderheit dieser Schriften liegt darin, dass sie einerseits grafische chinesische Wurzeln haben und auf den Betrachter asiatisch und spannend exotisch wirken, andererseits aber klar und verständlich gelesen werden können, ohne dass der Betrachter auch nur die geringsten Kenntnisse der chinesischen Schrift oder ihrer symbolischen Sinnbedeutung haben muss.

Die Übertragung von Fragmenten oder sogar ganzer Elemente chinesischer Schriftstile auf die lateinischen Grundformen erforderte zunächst die Recherche und Verständnisbildung für chinesische Schriftstile. Als ersten Ansatzpunkt für die Gestaltung ihrer Schriften untersuchte Chen Pu zunächst die verschiedenen chinesischen Schriftgruppen auf geeignete Transformationsmerkmale.

Mit den Schreibwerkzeugen Pinsel, Tusche, Papier und Tuschereibstein, die als die »Vier Schätze des Studierzimmers« (wenfang sibao) gelten, haben die chinesischen Kalligrafen über die Jahrhunderte hinweg viele verschiedene Stilrichtungen der Kalligrafie entwickelt. Diese verschiedenen Stilrichtungen entwickelten sich zum Teil gemäß der verwendeten Schreibmaterialien. Die Fülle der unterschiedlichen chinesischen Schriftstilarten kann in fünf Hauptgruppen eingeteilt werden:

Siegelschrift (zhuanshu)
Kanzleischrift (lishu)
Normalschrift (kaishu)
Kursivschrift (xingshu)
Vollkursivschrift/Grasschrift (caoshu)


Siegelschrift (zhuanshu)
In der Siegelschrift sind die senkrechten und waagerechten Linien fein, aber gleichmäßig und kraftvoll ausgeführt. Die Enden laufen leicht spitz aus. Die Siegelschrift erreichte in der Qin-Zeit (221-206 v. Chr.) ihren Höhepunkt. Die Siegelschrift dieser Zeit wurde in zwei Hauptuntergruppen eingeteilt, die »dazhuan«, (große Siegelschrift) und die »xiaozhuan« (kleine Siegelschrift). Typisch für die große Siegelschrift sind Inschriften auf zylinderförmigen Steinen (shi gu wen) und auf gravierten Bronzekesseln. Charakteristisch für die kleine Siegelschrift sind die gewundenen, drahtartigen, sorgfältig ausgeführten Linien. Li Si, ein hochrangiger Minister in der Qin-Zeit, hinterließ der Nachwelt eine Taishan Steininschrift, die seitdem als einzigartiges Beispiel der kleinen Siegelschrift gilt.

Kanzleischrift (lishu)
Die offizielle Kanzleischrift wurde entwickelt, um eine schnell auszuführende Schrift zur Hand zu haben, die dem riesigen Umfang an offiziellen Dokumenten Herr werden konnte. Der Gefängniswärter Cheng Miao aus der Qin-Zeit entwarf diese breite, eckige Schrift durch Abwandlung des Siegelstils. Ihre Hauptmerkmale sind schnurgerade senkrechte und waagrechte Linien und eine enge Struktur. Die Kanzleischrift war angenehmer und zeitsparender zu schreiben als die Siegelschrift und trug damit erheblich zum Fortschritt der Wissenschaft in China bei.

Normalschrift (kaishu)
Kaishu, die Normalschrift, wurde anhand der Kanzleischrift in der Han-Zeit (206 v. Chr. -220) entwickelt. Heute nennt man sie »Standard Schreibschrift« (zheng kai). Da die Schreibschrift noch einfacher als die Normalschrift zu schreiben war, wurde sie für den alltäglichen Schriftgebrauch in der Han-Zeit benutzt. Die Normalschrift hatte in der Tang-Zeit (618-907) ihre Blütezeit. Berühmte Kalligrafen wie Yan Zhengqing (705-785) gründeten ihre eigenen Schulen der kaishu-Kalligrafie, die mit ihren breiten und kräftigen Pinselstrichen einen lang anhaltenden Einfluss auf die Geschichte der chinesischen Kalligrafie nahm. (Die Kalligrafie, nicht die Schulen)

Kursivschrift (xingshu)
Die chinesische Kursivschrift ist ein Stil, der zwischen der Normalschrift und Vollkursivschrift angesiedelt ist. Sie ist weder so eckig wie lishu oder kaishu noch so rund wie die Siegelschrift. Sie kann wohl am besten als eine Variante der Normalschrift (kaishu) beschrieben werden. Der Name kommt von der »schnellen« Art, in der sie ausgeführt wird. Es wird angenommen, dass die Kursivschrift von Liu Desheng in der östlichen Han-Zeit (25-220) entwickelt wurde. Zhong Yu aus der frühen Wei-Zeit (220-265) wandelte diese Schrift etwas ab. Die beiden Meister der Kalligrafie aus der östlichen Jin-Zeit (317-420), Wang Xizhi und sein Sohn Wang Xianzhi, brachten diese Schrift zur Vollendung. Sie ist eine besonders elegante Schrift, die flüssig und leicht wirkt. Das früheste noch existierende Beispiel für diesen Schreibstil ist eine Abschrift des Vorwortes zum »Orchideen Pavillon« (Lanting xu) von Wang Xizhi.

Vollkursivschrift/Grasschrift (caoshu)
Es gibt viele Unterkategorien des Stils der Vollkursiv- bzw. der Grasschrift. Einige sind Verbindungen mit anderen Stilen, zum Beispiel die Kursiv-Siegelschrift oder der Kursiv-Normal-Stil. Es gibt auch einen »Wilden Kursivstil« (kuangcao).

Die gemeinsamen Merkmale aller Kursivstile sind eine vereinfachte Struktur der Zeichen, ineinander laufende Striche, schnell geschriebene und fließende Linien, aber eine erschwerte Lesbarkeit. Die Schönheit der Kursivschrift wird in einem chinesischen Sprichwort ausgedrückt: »Die Schrift endet, doch die Bedeutung geht weiter; der Pinsel wurde niedergelegt, doch die Kraft ist unendlich.« Unter den fünf Stilen der chinesischen Kalligrafie kommt die Kursivschrift der abstrakten Kunst am nächsten. Zu den hervorragenden Kalligrafen der Kursivschrift, die über die Jahrhunderte erfolgreich Ordnung in offensichtliches Chaos brachten und ihre eigenen Kalligrafieschulen gründeten, gehörten Wang Xianzhi aus der östlichen Jin-Zeit, Huai Su (725-785) aus der Tang-Zeit und Yu Youren (1879-1964).


Siegel: eine Text- und Headlinschrift mit markanter Formensprache.
Die Inspirationsquelle der Schrift Siegel stammt vom Kalligrafen Li Si aus der Qin Dynastie im Jahr 219 v. Chr. Zu dieser Zeit war das Papier noch nicht erfunden und man schrieb mit Metallstiften auf Bambus. Die Inspirationsvorlage zur Siegel wird »Yi Shan Bei« genannt und stammt aus dem chinesischen Lehrbuch »Basiswissen für Kalligrafie«. Die nebenstehenden Arbeitsskizzen geben einen Überblick über Systematik und Methodik der Arbeitsweise von Chen Pu. Zum Entwurf der Siegel wurden in mehreren aufeinanderfolgenden Stufen markante Schriftzüge von den originalen Schriftsymbolen erfasst, eingegrenzt und gezielt herausgearbeitet. Das eingegrenzte Grundsymbol wurde dann freigestellt, skaliert, gedreht und verschoben, um so im letzten Arbeitsschritt die Ausgangsform für einen neuen Buchstaben der Schrift Siegel zu bilden.

Die Anmutung der Siegel wirkt ausgeglichen. Die Charaktereigenschaften sind sanft und von zierlicher Natur. Siegel ist von Chen Pu zu einem Generalisten ausgestaltet worden, der sich für Fließtexte, aber auch für wirkungsvolle Überschriften eignet. Die überraschende und kreative Formgebung nimmt der Siegel die Strenge, die normalerweise »durchgestalteten« Grotesk-Schriften anhaftet und gibt ihr damit auch durch ihren handwerklichen Charakter eine persönliche Note. Die Siegel ist in vier Schnitten von Extra Light bis Bold verfügbar.


Epoche: eine kalligrafische Schrift mit malerischer Anmutung.
Die Formverläufe der Schrift Epoche leiten sich aus Arbeiten des Kalligrafen Liu Gongquan (778-865) aus der Tang Dynastie ab. Im Gegensatz zu den Quellen der Siegel entstanden die Vorlagen zur Epoche durch Auftrag von Tusche auf Papier mittels eines Pinsels. Das Ausgangsmaterial »Xuan Mi Ta Bei« entstammt aus der kalligrafischen Sammlung des Meisters Liu. Im Fall der Epoche hat Chen Pu kein Symbol aus der Orginalvorlage isoliert und als Arbeitsgrundlage übernommen, sondern er hat die Pinseltechnik des Künstlers freihändig interpretiert. Dazu waren zeitaufwendige und mühevolle Schreibversuche mit Pinsel und Tusche auf Reispapier erforderlich. Im darauffolgenden Arbeitsschritt wurde dann der jeweils geeignete Buchstabe vom Reispapier gescannt und in Vektordaten umgesetzt.

Das Schriftbild Epoche bezieht sich auf die kalligrafisch geschriebene Normalschrift. Epoche hat somit schwungvolle Züge mit Pinselduktus. Die Schrift wirkt lebendig und malerisch mit schlichter, aber solider und kraftvoller Anmutung. Epoche vereint kalligrafischen Charme mit guter Lesbarkeit.


Eurasia: geometrische Formen für eine prägnante Ornamentik.
Die Formelemente zur Eurasia-Schrift wurde aus der Abbildung originaler Amtsstempel der Ming Dynastie entnommen. Die gefaltete und verschachtelte Schrift war eine populäre Schrift für den Amtsgebrauch. Die Vorlage ist im Buch »Grundkenntnisse der Siegelschnitzerei« dargestellt. Während der Entwicklung von Eurasia benutzte Chen Pu Millimeterpapier als Hilfsmittel, um ähnliche begrenzte Felder wie bei einem Stempelschnitt zu simulieren. Ziel war es jedoch nicht, mathematisch exakte Formen zu schaffen, sondern den handwerklichen Charakter der »geschnitzten« Form zu transportieren. Jedes Schriftzeichen soll hierbei so raumfüllend wie eben möglich wirken. Chen Pu hat versucht, den gefalteten Stil der Originale bestmöglich als eine der stilprägenden Eigenschaften in die Eurasia zu übernehmen.

Das Schriftbild Eurasia wirkt verspielt und geheimnisvoll mit raumgreifender, teilweise raumfüllender Wirkung. Eurasia ist eine dekorative Schmuckschrift. Sie eignet sich für Lesetexte, kann aber auch für kurze Headlines eingesetzt werden, sofern eine geometrisch ornamentale Wirkung gewünscht wird. Markant wirken hier besonders die gefalteten, verschachtelten und horizontalen Grundstriche. Trotz ihres konstruktiven Auftritts ist es Chen Pu gelungen, durch bewusste Unregelmäßigkeiten in der Strichführung den Charakter eines mit der Hand gefertigten Stempelschnittes zu erhalten. Die Stärke von Eurasia liegt in dem betont dekorativen und schmückenden Ausdruck für eine prägnante Gestaltung von Logotypes, Karten, Gravuren und Verzierungen. Die Eurasia ist in vier Schnitten von Extra Light bis Bold verfügbar.


Das Konzept des Schriftprojektes beinhaltet zudem die Präsentation der drei Schriften mittels einer kulturellen, historischen »Imagebuchserie« über das alte China. Die Präsentation besteht aus drei »Büchern« der sechs ereignisreichsten Dynastien des alten Chinas und zeigt in kontinuierlich aufeinanderfolgenden Zeitfenstern die Entwicklung des chinesischen Reiches unter dem ersten bis zum letzten Kaiser. Die einzelnen Präsentationen dienen gleichzeitig als Musterbuch. Die Schriften werden in verschiedenen Punktgrößen und Farben gezeigt. Es wird dabei gezielt auf die Wirkung möglicher Relationen von Text und Bild eingegangen, um zu zeigen, was mit den Schriften möglich ist und wo ihre jeweiligen grafischen Stärken und Grenzen liegen.

Die drei »Bücher« sind auch als PDF-Datei erhältlich und können über die nachfolgenden Links oder über die Downloadseite eingesehen und heruntergeladen werden.


Links:
Buch 1 Qin und Han Dynastie (Siegel), 7 MB
Buch 2 Tang und Song Dynastie (Epoche), 16 MB
Buch 3 Ming und Qing Dynastie (Eurasia), 14 MB


(Textauszüge und Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Chen Pu. Zusammengestellt und kommentiert von Günther Flake.)

Bild 1: Die Präsentation besteht aus drei »Büchern« der sechs ereignisreichsten Dynastien des alten Chinas.

Bild 2: Vorlage Siegel (Li Si, Qin-Dynastie, 221-206 v. Chr.).

Bild 3: Beispiele der Entwicklung der Siegel.

Bild 4: Vorlage Epoche (Li Si, Tang-Dynastie, 618-907 n. Chr.).

Bild 5: Beispiele der Entwicklung der Epoche.

Bild 6: Vorlage Eurasia (kaiserlicher Stempel aus der Ming Dynastie, 1368-1644).

Bild 7: Weitere Stempelabdrücke als Inspirationsquelle und Entwicklung der Eurasia.